(Folge: 3)
Deutsche Übersetzung: L.P.
Das Seminar fand an der Universität Fernando Pessoa von Porto statt (18. Juli 2003)
Emotionale Bindungen in einer Gruppe und zwischen Untergruppen, soziodynamische Untersuchung mit Einbeziehung von eventuellen nicht konventionellen Kommunikationsvorgängen.
Führertum
Ob die Gruppe sich aus spontanen Interaktionen herausbildet oder sich nach dem Muster des Sammelbeckens konstituiert, beschränkt sie sich nicht auf diese Unterscheidung durch die Grenze zwischen ihr und der Umgebung. Die Interaktionen, die in der Gruppe stattfinden, sind sehr unterschiedlich: Sympathie, Freundschaft, Liebe, Hass, Eifersucht, usw. Alle möglichen zwischenmenschlichen Gefühle finden in der Gruppe statt, alle mögliche Worte werden ausgerufen oder zugeflüstert, alle mögliche Geheimnisse werden darin geteilt oder verheimlicht. Es ist jedoch wichtig, die Beziehungen, die auf Autorität oder Unterwerfung beruhen, abseits zu behandeln. Egal, ob diese Beziehungen sich rein auf den Charakter beziehen (Führer- oder Mitläufertemperament) oder ob sie auf der rationellen Notwendigkeit beruhen, die Aktion zu organisieren, es scheint für keine Gruppe möglich, sich diesen Beziehungen zu entziehen; in der Gruppe sind sie mehr als anwesend: daraus besteht das Gerippe der Gruppe. Sie ermöglichen es, den „Weichtiere“ - Gruppen, in welchen das Wichtigste die Grenze ist und die Hierarchie sich auf deren einfachste Ausdruckweise reduziert (so die Schildkröte mit groβem Panzer und kleinem Kopf), die „Wirbeltiere“ - Gruppe entgegenzusetzen, in welchen die Grenze genauso ausgeprägt ist, aber viel mehr dynamisch ist und die Hierarchie viel mehr vorhanden und manchmal belastend ist.
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In seinem hervorragenden Versuch, den Wahnsinn zu
verstehen, betont Basaglia, dass er nicht das in einer Gruppe und in einer
gröβeren Gruppe wie die „Gesellschaft“ einzige sehbare von der Norm
abweichende Verhalten ist. Er kommt zum widersprüchlichen Schluss, dass
die von der Norm abweichenden Verhalten eigentlich am Zahlreichsten sind!
Mit anderen Worten entspricht das Zusammenzählen von allen Gruppen von normabweichenden
Verhalten fast der gesamten Gesellschaft! Unter „von der Norm abweichend“
versteht er hauptsächlich diejenigen, die nicht produktiv sind: Wahnsinnige,
Kranke, Verhaltensgestörte, Arbeitslose, Hausfrauen, Kinder, Rentner, usw.
Die Wissenschaft der Gruppendynamik hat zu der Feststellung
geführt, dass neben dem offiziellen Führertum zahlreiche nicht konstitutionelle
(wenngleich sehr konstitutive) Hierarchien weiter existieren können: das
affektive Führertum, welches einem Mitglied der Gruppe eine vordergründige
Rolle gibt, so dass es als der emotionelle Resonanzkörper der anderen Mitglieder
erscheint, das kontrapunktische Führertum des Clowns, dem die Gruppe den
Auftrag anvertraut, es zu übertreiben, die Schwächen zu betonen, das allzu
Selbstverständliche zu karikieren, usw. Es existieren sogar unterirdische
Führertums: der „Pirat-Führer“, der absichtlich (Führernatur) oder nicht
absichtlich auf viele Kollegen Einfluss nimmt; der Wurm in der Frucht, der
einem Mitglied, das in der Nähe des offiziellen Führers steht, mal die Rolle
des zu zerstörenden Bildnisses, mal des Sündenbockes, und schlieβlich
des unerhofften Retters, gibt.
9 Juillet 2004